1985 stellte die Royal Society in ihrem Bericht „Public Understanding of Science“ fest, dass es der Öffentlichkeit an einem adäquaten Wissenschaftsverständnis fehle und dass dieser Mangel zu einem Problem für die weitere Entwicklung der Wissenschaft wie auch der Gesellschaft insgesamt werden könne. Daher wurde eine Reihe von Aktivitäten angestoßen, die Wissenschaft und Öffentlichkeit näher zueinander führen sollten. Zugleich wurde die wissenschaftliche Erforschung des Verhältnisses von Wissenschaft und Gesellschaft intensiviert.
Dabei zeigte sich – wenig überraschend – unter anderem, dass dieses Verhältnis maßgeblich durch die Massenmedien geprägt ist. Nur wenige Menschen haben persönlichen Kontakt zu Wissenschaftlern, zum Beispiel in Familie und Beruf. Die Mehrheit bezieht ihr Bild von Wissenschaftlern hauptsächlich aus den Medien. Dabei dienen TV-Formate wie Nachrichten oder Wissenschaftsmagazine und die Berichterstattung in den Printmedien als Informationsquelle. Während diese Medien inzwischen gut untersucht sind, wurde Spielfilmen bislang wenig Aufmerksamkeit von Seiten der Wissenschaft zuteil.
Die Dunkelheit des Kinosaals, Wunschträume und eine zweite Realität
Der Film bindet die Zuschauer anders in das Geschehen ein, als das Fernsehen oder Printmedien es vermögen. Eine wesentliche Rolle spielt dabei die Dunkelheit im Kinosaal. Das Bewusstsein tritt zurück. Der Zuschauer gerät in einen Zustand zwischen Wachen und Schlafen – der Film wird zum Traum. Der Zuschauer wird Teil der Handlung und lebt das Geschehen mit.
Der Spielfilm spiegelt, so Siegfried Krakauer, die Wünsche und Sehnsüchte des Massenpublikums wider. Die meisten Produzenten produzieren Filme, von denen sie annehmen, dass sie von möglichst vielen gesehen werden und Gewinn einspielen. Sie versuchen, die Wünsche des Publikums zu identifizieren und dessen Geschmack zu treffen. Gleichzeitig werden die Wünsche der Zuschauer aber auch durch das Gesehene beeinflusst. Kommerzielle Interessen der Produzenten und der Wunsch nach Unterhaltung des Publikums bedingen sich gegenseitig.
Niklas Luhmann stellt fest, dass der Spielfilm (wie der gesamte Bereich der Unterhaltung) den Zuschauer mit einer zweiten Realität konfrontiert – der Filmhandlung oder der „Welt“ im Film. Der Zuschauer setzt sich mit der Handlung auseinander und verhält sich zu dem Geschehen auf der Leinwand. Er befürwortet es, genießt es, oder er lehnt es ab. Dieser Beobachtungsvorgang und seine Reflexion tragen zur Ausbildung seiner Identität bei.
Filme sind jedoch kein Spiegel von Gesellschaft. Der Spielfilm entwickelt seine eigene geheimnisvolle Realität. Handlung, Charaktere und Symbole greifen in einem eigenen Muster ineinander. Dieses Muster wird auf dem Fundament realer gesellschaftlicher, politischer und wirtschaftlicher Fakten aufgebaut. Die Realität wird jedoch durch Drehbuchautoren, Regisseure und Produzenten zur Fiktion – zu den mythischen Geschichten des Kinos. Der „enthüllende Charakter der Kamera“ zeigt Aufnahmen und Aktionen, die in der „Realität“ so nicht zu erleben sind. Der Zuschauer erlebt Super-Heldinnen und -Helden, Traum-Frauen/Männer und Mega-Bösewichte, traumhafte Kulissen, märchenhaften Reichtum, atemberaubende Verfolgungsjagden, unvorstellbares Grauen und herzzerreißende Liebe. Der Film wird zur eigenen – zweiten – Realität, zum Traum.
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Im Original erschienen in „Forschung an der Universität Bielefeld 27/2004“ (Leider nicht mehr online)